Somit komme ich zu einem zweiten Problem, welches der britische Journalist Nafeez Ahmed in einen seiner Artikel für Insurge Intelligence konkretisiert (https://medium.com/insurge-intelligence/the-flawed-science-behind-extinction-rebellions-change-strategy). Es besteht das Problem, dass XR seine Vorbilder in Bewegungen findet, welche darauf abzielten, ein bestehendes, unübersehbares Regime repressiver Gewalt zu stören, das aktiv Gewalt gegen die Unterdrückten ausübte, die im Zentrum der Bewegung standen. In beiden Fällen (Gandhi/King) handelte es sich um den Widerstand von People of Color gegen Systeme weißer Vorherrschaft. In beiden Fällen suchten die disruptiven Aktionen, die Kosten der repressiven Gewalt, gegen die sich diese Gemeinschaften wehrten, direkt zu erhöhen.

Sie waren deshalb erfolgreich, weil die Institutionen, die sie unterdrückten, genau die Gewaltinstitutionen waren, die durch massenhafte Störung überwältigt werden mussten, damit Veränderungen eintreten konnten. Bis zu dem Punkt, an dem die Kosten für die Fortsetzung der repressiven Gewalt immer schwieriger aufrechtzuerhalten oder zu rechtfertigen waren.

Dieses Modell kann nicht einfach auf den modernen westlichen Kontext übertragen werden, wo die Machtstrukturen weitaus komplexer sind, die Unterdrückung unsichtbarer ist und die angegriffenen Institutionen keinen intuitiven, offensichtlichen Zusammenhang mit den gestellten Forderungen haben.

Um hier aber nicht in völliger Kritik zu versinken, kann ich mit Gewissheit sagen, dass XR sich als eine der erfolgreicheren, effektiven und gut organisierten sozialen Protestbewegungen der letzten Jahre erwiesen hat und sich sicherlich als eine der effektivsten in Sachen Klima Aktivismus herausstellt. Dies sieht man unter anderem an der weiter wachsenden Zahl an Mitgliedern, laut offiziellen Aussagen der Homepage gab es im Mai 2020 ca. 1140 Ortsgruppen in 67 Ländern. Zahlen innerhalb der Ortsgruppen wurden nicht festgehalten. Im selben Zeitraum gab es 130 aktive Ortsgruppen in Deutschland, deren Größe ich aus eigener Erfahrung zwischen 150 – 300 schätzen würde. Es wird definitiv etwas richtig gemacht. Ich für meinen Teil glaube, es ist eine der wichtigsten Bewegungen, die in den letzten Jahren entstanden sind. Vor allem da sie es geschafft hat einen Fokus auf die Klimakrise in der Mainstream Öffentlichkeit zu legen. Ebenso gewann die Debatte um Aktivismus, angeheizt durch Diskussionen verschiedenster Interessenvertreter, an Bedeutung nach bspw. der Rebellion Wave im Oktober 2019.

Ein weiterer positiver Effekt ist meiner Meinung nach die Altersstruktur der Bewegung. Ältere können jüngere Aktivist/innen fördern und umgekehrt. Hierdurch hat man viele Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Protestformen und einen breit gefächerten Austausch, definitiv vielfältiger als bei Bewegungen aus einer demografischen Spalte (zum Beispiel Fridays For Future, welche sich untereinander aufgliedern in Students-, Parents-, Moms- for Future).

Um in Zukunft an Effektivität zu gewinnen, sollte Extinction Rebellion eine Diversifizierung durchmachen. Erste Schritte in diese Richtung sind in Deutschland zu finden. Jedoch müssen sich die Mitglieder Fragestellungen entgegenstellen, wie man durch XR vor allem öffentlich soziale Schichten besser repräsentieren kann, und sie in den Entscheidungsprozess integrieren kann. Stichworte sind hier: “critical whiteness”, “no white saviours” (https://nowhitesaviors.org), soziale Gerechtigkeit für die Arbeiterklasse in Bezug auf umweltpolitische Entscheidungen und deren Auswirkung auf den Arbeitsmarkt, nur um einige Anreize zu nennen, die zu einer vertiefenden Recherche einladen.

Noch eine Möglichkeit für Extinction Rebellion besteht in der Hinterfragung der nicht-hierarchischen Strukturen. Man sollte sich damit befassen, ob es langfristig nicht sinnvoller ist, solche Strukturen einzuführen, damit man eine bessere, “volldemokratische” Organisation gewähren kann, um so Ausbrecher wie jenen in der Londoner U-Bahn zu vermeiden.

Bei genauerer Betrachtung fällt einem auf, dass XRs Adressierungen (mittlerweile konkreter geworden) oft gegen zu viele undefinierte Akteure gehen, oder zum Beispiel gegen den Staat gerichtet ist, wobei ich denke, dass man die Problematiken nicht nur in diesem suchen kann. Schafft Extinction Rebellion die Expansion von einer Umweltaktivismusgruppe zu einer kommunikationsbereiten sozialen Bewegung, wofür durchaus Potenzial besteht, so denke ich, dass in Zukunft einiges erreicht werden kann, was nicht nur der Klimakrise entgegenwirkt. Es muss somit ein stärkerer Austausch stattfinden sowie die Akzeptanz der Zusammenarbeit mit verschiedensten sozialen Gerechtigkeitsbewegungen statt der Abwerbung von Mitstreitern etabliert werden.

Ich persönlich bereue es in keiner Weise, bei Extinction Rebellion mitgewirkt zu haben. In Zukunft kann ich es mir auch vorstellen an weiteren Projekten mitzuarbeiten. XR, wie ich es erlebt habe, legte sehr viel Wert auf das Wohlsein der Aktivisten und klare, ehrliche Kommunikation. Viele interessante Menschen haben in dieser Zeit durch gute Gespräche, ausgiebige Diskussionen und lockere freundschaftliche Runden beisammen mein Denken geprägt. Dafür bin ich sehr dankbar. Was Extinction Rebellion in einem größeren Kontext betrifft, ist es von unglaublicher Wichtigkeit, dass die Bewegung über sich hinauswächst, um vernetzender und diverser zu werden, um somit eine Vielzahl an Problematiken anzugehen, welche auch Teillösungen der Klimakrise sind.