Nachdem ich die Statistik und Methoden-Klausur Ende Juni hinter mich gebracht hatte, konnte der Sommer richtig losgehen. Keinerlei Hausarbeiten oder Essays zu schreiben, erneuter Semesterbeginn Mitte Oktober. Satte drei Monate “Ferien” erwarteten mich – hurra!

Erstes Ziel: Italien. Wir, mein Freund und ich, fuhren zunächst nach Apulien, dann nach Neapel, später in die Toskana und schließlich ging es über Mailand zurück in den Norden Italiens, in ein kleines Bergdorf in der weiteren Umgebung Turins. Hier findet sich “Belmonte”, eine Konstellation aus verschiedenen uralten Kapellen, situiert auf einem Berggipfel, das als UNESCO Weltkulturerbe ausgezeichnet ist. Anders als zahlreiche Touristen kamen wir nicht, um alte Jesus-Figuren zu bestaunen, sondern um bei einem “Workaway” mitzuarbeiten. Der Deal lautet: Essen und einen Schlafplatz im Tausch für Arbeitskraft. So spart man Geld, knüpft Kontakte und kommt an Orte, die man sonst vielleicht nicht besucht hätte.

Auf dem “Sacro Monte de Belmonte”

Unsere Gastgeberin, Daniela, ist Hüterin einer kleineren Ziegenherde sowie von zwei Eseln und einem Hund. Wir sollen ihr dabei helfen, ein altes Haus auf ihrem Grundstück zu restaurieren und ihr auch sonst ein wenig unter die Arme greifen. Im Gegenzug dürfen wir in ihrem alten Wohnwagen übernachten und werden mit Lebensmitteln, allesamt regional oder sogar aus dem eigenen Garten, versorgt. Links zu sehen sind eigens geerntete Zucchinis, Tomaten und Rucola.

Ihr Grundstück ist ziemlich idyllisch gelegen. Wenig Lärm, viel Grün und jede Menge zutun, so lautet mein erster Eindruck. Daniela kann zwar kaum Englisch, aber dank meiner Französischkenntnisse gelingt es mir einigermaßen, sie zu verstehen. Italienisch und Französisch ähneln sich in bestimmter Hinsicht sehr. Ansonsten hilft Google Translator. Daniela erzählt uns, dass sie Teil einer “community” ist, die sich gegenseitig mit eigens angebautem Gemüse versorgen und aushelfen, wann immer nötig. Klingt gut, denke ich.

Abends sind wir direkt zum Essen auf einer der befreundeten Farmen eingeladen. Es gibt Pizza und Rotwein vom Feinsten. Während des Essens erzählen wir, was uns hierher bringt und alle hören interessiert zu. Schließlich die Frage: “Was denkt ihr über Corona?”. Uff, bloß nicht das Thema. Bereits mit böser Vorahnung nuschle ich irgendetwas von “Blöde Zeit, schön, dass wir jetzt wieder reisen können und gut, dass es inzwischen die Impfung gibt.” Betretenes Schweigen. Schließlich fängt Daniela an zu schmunzeln und fragt, ob wir uns denn nun sicher fühlen würden – sie seien alle nicht geimpft. Es folgt ein wirres Gespräch über “Experimente an Menschen”, “korrupte Politiker” und den “medialen mainstream”. Argumente werden stets durch Schaf-Metaphern veranschaulicht, es fallen die Worte “Herde” und “Folgsamkeit” und “Außenseiter” und “Leittier”. All das auf gebrochenem Englisch. Zuletzt die Frage: “Habt ihr Telegram?”

Am Morgen danach müssen wir die Esel füttern und die Ziegen freilassen, weil Daniela bereits früh zur Arbeit muss. Sie jobbt im örtlichen Schwimmbad, arbeitet vier Tage die Woche auf den Feldern zur Gemüseernte und kümmert sich um ihren Bienenschwarm, aus dessen Erzeugnissen sie Honig macht und verkauft. Ich habe den Eindruck, sie ist ziemlich ausgelastet. Sie fährt früh zur Arbeit und kommt meistens sehr spät zurück. Es ist mit Sicherheit nicht leicht, ein so großes Grundstück in Stand zu halten, die Tiere zu versorgen und eine Familie zu finanzieren. Aber Daniela beschwert sich nicht.

Als ich erzähle, dass ich studiere, hebt sie nur die Augenbrauen. Studiert hätte sie nie. Alles, womit sie heute ihr Geld verdient, hätten ihr andere Leute beigebracht, außerhalb staatlicher Institutionen. Sie erzählt weiter, dass sie kein Vertrauen mehr in die italienische Regierung hat und dass es eine staatliche Zensur gebe, weshalb sie kein Fernsehen mehr schaut. Nur Telegram. Telegram sei der einzige Weg, an wahre Informationen zu kommen. Informationen, die sonst nicht für die Bevölkerung bestimmt seien. Abends schickt sie uns Studien und Videos, die die Wirksamkeit der Impfung in Frage stellen oder gleich ganz abstreiten, dass wir uns in einer globalen Pandemie befinden. Es sind Menschengruppen ohne Maske zu sehen, die mit erhobener Faust durch Kaufhäuser marschieren und Parolen skandieren, was andere dazu ermutigen soll, den in Gefahr gesehenen Rechtsstaat zu erhalten und Freiheitsbeschränkungen mit Widerstand zu begegnen. Viele der Anhänge sind auf Englisch, weitere auf Französisch, für meinen Freund, andere auf Deutsch, für mich. Aber Daniela kann kein Englisch, versteht kein Französisch und auch kein Deutsch. Nicht nur das wirft Fragen auf. Wir googeln einige der als “wissenschaftlich” deklarierten Quellen und gelangen zu dubiosen Seiten wie auch zu seriösen Quellen, welche wiederum falsch rezipiert wurden. Es ist ein großes Chaos. Mir stellen sich so viele Fragen. Wie kann jemand glauben, dass geimpfte Personen nun auf dem Bluetooth Radar alter Smartphones angezeigt werden? Dass 4G das Coronavirus verbreitet? Dass Bill Gates die Weltbevölkerung sterilisieren möchte und dies als Impfkampagne tarnt? Über diese Mutmaßungen bin ich fassungslos.

Andere Themen unseres Gesprächs kann ich besser nachvollziehen. Danielas Skepsis gegenüber der italienischen Politik und den Medien beispielsweise. Es scheint ein schon ewig schwelender Konflikt vielfältigster Dimensionen zu sein, den ich als Außenstehende kaum überblicken kann. Links vs. Rechts, Stadt vs. Land, Süd vs. Nord, Regierung vs. Opposition. Mario Draghi, Italiens amtierender Regierungschef, ist ein unwahrscheinlich beliebter, zugleich jedoch hart umstrittener Politiker. Einige sehen ihn als großen Reformer, der Italien zu gutem Ruf verhelfen wird, andere kritisieren inbesondere seine strikte Politik im Umgang mit dem Coronavirus. Zugang zu Restaurants oder kulturellen Einrichtungen hat nur, wer den “Greenpass” vorzeigen kann. Dieser ist auch nötig, um seiner Arbeit nachzugehen. Eventuelle Kosten für Tests entfallen auf die Bürger:innen. Viele Italiener:innen halten dies für den richtigen Weg, um Italien aus der Pandemie zu führen. Andere wiederum, darunter auch Daniela, fühlen sich seit Jahren von der italienischen Politik missverstanden und empfinden Draghis Politik als Provokation. Eine Annäherung beider Seite ist nicht absehbar.

Daniela erzählt weiter, dass die Impfung als eine Art Wundermittel vermarktet wird. Dennoch erkranken Personen, trotz Impfschutz. – “Wie kann das sein?” Warum darf ihr ungeimpfter Sohn bald nicht mehr zur Schule gehen? Sie meint, dass sie nie krank sei und dass sie glaubt, der Körper könne sich selbst am besten vor Krankheiten schützen. Sich nun einen Impfstoff injizieren zu lassen, wo sie doch gesund sei, bezeichnet sie als abwegig. Außerdem sei “das alles” ein großes Experiment. Daniela zufolge ist es unmöglich in solch kurzer Zeit – einem Jahr – einen wirksamen, risikofreien Impfstoff zu entwickeln. Es fehle an Langzeitstudien. Warum seien wir so sicher, dass in fünf, in zehn Jahren keinerlei Nebenwirkungen auftreten werden? Gute Frage. “Ich vertraue da der Wissenschaft”, erwidere ich und bin selber nicht ganz zufrieden mit dieser abgedroschenen Floskel.

Es ist schwierig, diese wilden Thesen unkommentiert zu lassen. Viele davon sind nichts Neues, dementsprechend bekannt sind auch ihre Widerlegungen. Allerdings fühlte ich mich in keinster Weise berufen, Daniela nun die genaue Funktion eines mRNA-Impfstoffes zu erklären, warum es eben genau wichtig ist, dass sich auch Personen außerhalb der Risikogruppen impfen lassen oder warum Telegram-Gruppen häufig keine verlässlichen Informationen hergeben. Lieber wollte ich mit ihr über andere Dinge reden. Welche Pflanzen gut neben Tomaten wachsen, wie Bienen zurück zu ihrem Bienenstock finden, wo in Italien die beste Pizza gebacken wird.

Kurz bevor wir fahren, frage ich Daniela, wofür sie denn das Haus, das wir während unserer Zeit dort mit restauriert haben, nutzen möchte. “Das soll eine Schule werden”, meint sie, “für alle Kinder, die keine Impfung haben und deshalb bald nicht mehr zum regulären Unterricht zugelassen sind.”