Es ist zu weit weg, um es fühlen zu können

Sich die Hand zu reichen, ist ein Symbol des Friedensschlusses.

Es ist Montagmorgen. Die Sonne ist noch schüchtern und lässt nur vereinzelte Strahlen mein Gesicht erwärmen. Ich reiße die Verpackung an der gestrichelten Linie auf und werfe den Teebeutel in das Glas. Er versucht, nicht unterzugehen. Der zerbrochene Keks auf meinem Teller wirkt einsam und mir wird kalt.Nicht wegen der schüchternen Sonne, sondern wegen der kalten Worte, die ich versuche, einzufangen. „600 Menschen hinterm NW1, 150 in der Grazerstraße und 120 am Fallturm“, Jendrik erzählt weiter, doch ich kann nicht gut über große Zahlen springen. 600 + 150 + 120 = 870.

Flüchtlingsheim NW1 Bremen

Bild: Flüchtlingsheim NW1 Bremen

870 Menschen in Zelten. Zahlen, die ich mir in Menschenseelen nicht vorstellen kann. Der eine einsame Keks auf dem Teller macht mich immer noch traurig.

Jendrik ist einer von derzeit hundertsiebzig ehrenamtlichen Mitarbeitern der AG Refugee Welcome, einem Zusammenschluss von Studierenden der Universität Bremen, die mit verschiedenen Projekten die jungen Flüchtlinge unterstützen möchten, die auf dem Campus untergebracht werden. „Ein Geflüchteter den ich schon länger kannte, ein guter Kumpel von mir, bei dem schien alles sicher zu sein. Aber dann war sein Status nicht ganz geklärt, weil er aus dem Senegal kommt und das als ein sicheres Herkunftsland gilt. Es stand dann alles mehrfach in Frage und er hat einfach kein Geld mehr bekommen“, Jendrik´s Kopf sinkt, seine Stimme wird weich. „Er hatte hungrige Nächte“.„Diese Situation ging mir schon nahe, weil es jemand war, den ich direkt kannte. Man verlagert die Tragödien automatisch ins Mittelmeer.“ Mein Teebeutel ist untergegangen. Und mein Leben kommt mir plötzlich unheimlich sicher vor. Ich bin umgeben von einer Gesellschaft, die aus Diätgründen hungert, bei denen Nicht-Essen mit dem Erfolg purzelnder Kilos gleichgesetzt wird. Ich kann nicht nachvollziehen, was diese Menschen durchmachen und es zu behaupten, wäre ein Versuch von verzweifelten Realitätsverschönerungsgedanken. Dem Glauben, man könne sich in die Situation dieser Menschen hineinversetzen, wenn man die Augen nur kräftig genug zusammenkneift und sich wünscht etwas zu fühlen. So funktioniert das nicht.

„So funktioniert das nicht…“, Jendrik bricht das Schweigen, das sich wie ein übergroßer Mantel um unsere Stimmen gelegt hat. „Das sind diese Momente, in denen man resigniert. Man engagiert sich zu hundert Prozent in der Sache, bemüht sich und hat im Endeffekt nur einen kleinen Einfluss auf das große Ganze. Wir wollen so viele neue Sachen machen, aber dafür kommen nicht genügend Helfer. Wir würden die Geflüchteten gerne bei Arzt- und Ämtergängen unterstützen aber aktuell lässt sich das nicht realisieren. Wenn wir zum Beispiel zwei Stunden Fußball anbieten, dann brauchen wir dafür einen Helfer, der zwei Stunden Zeit in der Woche hat mit sechzig Geflüchteten zu spielen. Wenn wir hingegen Arztbesuche anbieten möchten, brauchen wir eine Person, die zwei Stunden frei hat, um einen Geflüchteten zu unterstützen. Unterm Strich heißt das, dass wir wesentlich mehr Leute brauchen“. Zahlen. Schon wieder. Ich würde mir wünschen, dass mehr von Worten abhängig wäre „Diese Momente…, die Momente, in denen die Geflüchteten überdankbar sind. Die gibt es oft und verleihen mir einen totalen Ansporn“, sein Gesicht lächelt und Erinnerungen formen Glücksgefühle, die jede kalte Vorstellung untergehen lassen.

AG Refugee Welcome

Bild: AG Refugee Welcome

„Seit ein paar Monaten sitzen regelmäßig Geflüchtete im Plenum und diskutieren mit uns zusammen. Das freut mich total. Wir bekommen dadurch Informationen von der anderen Seite, mehr Bewusstsein über den aktuellen Zustand und generell der Fakt, dass man nicht über Leute redet, sondern gemeinsam an einer Sache arbeitet, das macht den größten Unterschied aus. Und das ist das wichtigste an der ganzen Arbeit, dass es kein von oben herab gibt, sondern ein Miteinander“, sagt Jendrik abschließend, stellt Tassen und Teller zusammen und legt seinen Keks neben meinen.

Miteinander heißt, wir alle. Zusammen. Wir alle müssen uns trauen. Uns trauen, in die Gesichter von diesen Menschen zu blicken. Uns trauen Angst und Verzweiflung mit echten Augen zu sehen und uns nicht die Welt durch Bildschirme vorstellen lassen und uns einreden, wir würden die Wahrheit kennen. Wir müssen uns trauen zuzugeben, dass das Leid dieser Menschen uns alle etwas angeht. Und wir alle die Zeit hätten etwas zu verändern. Jetzt.

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