Editorial – Der Leserbrief

Vor anderthalb Jahren veröffentlichte ich an dieser Stelle einen Artikel über den Evolutionsbiologen und Physiologen Prof. Dr. Ulrich Kutschera. Vor einem Jahr freute sich die Redaktion der EULe, dass dieser Artikel von dem investigativjournalistischen, nordrheinwestfälischen Blog „Ruhrbarone“ in deren Post zur Personalie Kutschera verlinkt worden war. Mein Artikel kam dadurch zwar bei weitem nicht in die Top-Ten der meistgelesenen Blog-Posts der EULe (210 Leser*innen bis zum heutigen Tag – gegenüber mehr als 7.400 bei unserem absoluten Klick-Schlager), aber die Verlinkung sorgt zumindest dafür, dass immer wieder mal Menschen über die EULe stolpern, die unsere Seiten sonst vermutlich nicht besucht hätten. Einer von Ihnen ist möglicher Weise „Mr. Tourette“.

Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich anscheinend ein Anhänger Kutscheras, den unsere kritische Auseinandersetzung mit den sexistischen und rassistischen Aussagen des Kasseler Professors anscheinend erbost hat. Kutschera hatte der EULe einst Anlass gegeben, sich mit ihm zu befassen, da er einen Gastvortrag an der Uni hatte halten wollen, vor dem er allerdings auf Druck des AStAs von den Veranstalter*innen ausgeladen worden war. Grund dafür waren vor allem die skruden Thesen, die er auf den Internetseiten des deutschen Arbeitgeberverbandes propagiert hatte. In seiner Veröffentlichung wird den „Ureinwohnern Deutschlands“ die „Invasion“ von Geflüchteten gegenübergestellt und auch in geschlechtersoziologischer Hinsicht gleichermaßen schwarz-weiß gemalt. Es wird sich über „Kampf-Emanzen“ und Männer „mit einem sensibel-weichgespülten Wesen“ erzürnt und über das vermeintliche Ergebnis von gendersensibler Sprache und der Abkehr von heteronormativer Politik. Das Ergebnis seien „widernatürliche ‚Mann-Frauen‘ [sic.!] mit reduziertem Arbeitsleistungs- und Reproduktionspotential.“

Da ich mich bereits in dem besagten EULe-Artikel ausführlich mit Kutscheras Aussagen auseinandergesetzt habe, möchte ich darauf an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Stattdessen will ich den Kommentatoren, „Mr. Tourette“, fragen, wie er die sozial-darwinistisch anmutende Bewertung des Professors von Menschen unter Gesichtspunkten des „Arbeitsleistungs- und Reproduktionspotentials“ verteidigen kann, wenn er gleichzeitig durch meine Wortwahl Menschen mit Behinderung diskriminiert sieht. Hier lest ihr den besagten Kommentar:

Mein Artikel „So ein armer Mann! Geistig vergewaltigt und ausgeladen“, auf den sich dieser „Leserbrief“ bezieht, befasst sich inhaltlich überhaupt nicht mit dem Tourette-Syndrom. Ob meine Formulierung, mit der ich den Artikel eröffnet habe, jedoch als beleidigend aufgefasst werden kann, möchte ich euch selbst beurteilen lassen. „Mr. Tourette“ bezieht sich offensichtlich auf diesen Satz:

Prof. Dr. Ulrich Kutschera hat einen Duktus, der an die „Besorgten Eltern“, PEGIDA und Tourette erinnert und eine Logik, die sich nur paranoiden Menschen erschließt.

Sollten sich hierdurch Menschen mit Tourette-Syndrom pauschalisiert oder gar beleidigt fühlen, möchte ich mich hiermit in aller Form entschuldigen. Ich gebe zu, mich an dieser Stelle einer verkürzten und vereinfachenden Darstellung des Tourette-Syndroms durch Medien und den allgemeinen Sprachgebrauch bedient zu haben. Gemeint war natürlich, dass Prof. Dr. Kutschera mit einer so hohen Frequenz Reizwörter und Verumglimpfungen von sich gibt, dass dies schon fast zwanghaft erscheint. Dass sich Tourette in zwanghaften Ausrufen von beispielsweise tabuisierten Begriffen äußert, ist jedoch nicht der Regelfall. Tourette hat viele Erscheinungsformen. Auf die assoziative Gleichsetzung von verbalen Aussetzern und Tourette abzuzielen, war unsensibel. Ich sehe hierin jedoch nicht den Tatbestand der Beleidigung erfüllt, vor allem nicht gegenüber Menschen mit Tourette-Syndrom. Die augenscheinlichen verbalen Aussetzer von Prof. Dr. Ulrich Kutschera erinnerten mich schließlich nicht alleinig an die Ticks von Betroffenen des Tourette-Syndroms, sondern an die gefährliche Kombination von verbalen Aussetzern, einer reaktionären Grundhaltung und einer mir fernliegenden politischen Einstellung. Dies habe ich versucht, in überspitzter Form zum Ausdruck zu bringen.

Auch wenn mir dies in den Augen des Kommentators „Mr. Tourette“ misslungen sein sollte, möchte ich jedoch die Kritik entschieden zurückweisen, ich hätte die „Krankheit“ [gemeint ist das Tourette-Syndrom] „verlacht“ und mich „über Behinderte wie die Tourette Erkrankten lustig“ gemacht. Dass ich mich durchaus mit den Problemen von Menschen mit Behinderungen auseinandersetze, dürfte Ihnen, „Mr. Tourette“ die nächste Ausgabe der Sendung „Eule und Leute“ vor Augen führen, in der ich mich dem Thema „Leben und Studieren mit Behinderung“ widmen werde.

Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass das Tourette-Syndrom keine „Erkrankung“ ist, wie sie es nennen. Und wenn es sich bei Ihnen um einen sprachsensiblen Leser handelt, wundert mich doch auch, dass Sie in Ihrem Kommentar selbst keine hohe Sprachsensibilität an den Tag legen. „Behinderte“ ist ein Terminus, der Menschen auf ihre Behinderung reduziert. Es sind und bleiben in erster Linie aber Menschen, weshalb der Ausdruck „Menschen mit Behinderung“ vorzuziehen ist. Auf die Polemik der Aussage, ich könne nicht lesen, möchte ich nicht weiter eingehen. Auf Ihre Literaturempfehlung jedoch schon. Ich werde sicherlich keine Lebenszeit auf das Lesen von Büchern verschwenden, deren Autor*innen sich mit der Hetze gegen Menschen profilieren, die ihren heteronormativen Vorstellungen nicht entsprechen.

Die EULe-Redaktion freut sich stets über Feedback zu ihren Artikeln. Natürlich auch Kritik. Um so mehr, wenn dieses konstruktiv ist. Sich inhaltlich gegen einen unserer Artikel zu positionieren, dann aber nur auf sprachlicher Ebene zu argumentieren und das Ganze dann noch mit der Androhung einer Anzeige zu garnieren, ist kein Feedback, sondern ein zum Scheitern verurteilter Versuch, unsere journalistische Arbeit zu diskreditieren und uns in der Ausübung unserer Tätigkeit zu hemmen. Dass Drohungen mit juristischen Prozessen noch das kleinste Übel sind, welches man in den Kommentaren deutschsprachiger Onlinemedien findet, ist mir durchaus bewusst. Bisher sind wir von der EULe jedoch von sogenannten „Hatern“ verschont geblieben. Es wäre schön, wenn es dabei bliebe. Erspart euch und uns die Zeit und Energie, werte „Hater“.

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