.Notizen.

105 Minuten

09.01.2022

“Ihr Flug wird eine Stunde und fünf und vierzig Minuten dauern“- berichtet die Flugbegleiterin. Mein Sitzplatz ist heute 7C-am Gang. Die Emotionen in meinem Kopf sind heute so stark, dass ich durch diesen Aufruf die Welt nicht mehr hören kann. Nur 105 Minuten. So lang oder so kurz dauert mein Veränderungsprozess. Meine Persönlichkeit, meine Sprache, meine Freunde, mein ganzes Leben ist auf der anderen Seite Europas ganz anders. Ist es nicht möglich, einfach die gleiche Person zu bleiben? Die Antwort auf diese Frage suche ich schon seit langem.

Das Flugzeug landet. Ich steige aus. Jetzt höre ich nur wie die Meereswellen in meinem Kopf rauschen. Sind diese Geräusche von der Nord – oder Ostsee?  Nordsee, antworte ich mir. Ich würde nie die Geräusche von der Ostsee mit den Geräuschen einer anderen See verwechseln. Diese kleinen Ostseewellen sind tief in mir verschlüsselt, sie sind Teil von meiner Kindheit, sie sind Teil meiner Identität.

Ich verlasse den Flughafen. Mein Veränderungsprozess wurde beendet. Ich habe mich verändert. Aber warum höre ich immer noch das Rauschen von der Ostsee? Die Wellen schlagen gegen den Strand  lauter und lauter. Lauter und lauter. Ich versuche diese Geräusche auszublenden. Ich gebe mir Mühe, aber ich kann es nicht, ich kann es nicht, ich kann es leider nicht.

Ich werde nie den Sommerduft bei meiner Oma vergessen. Ich kann meine Tränen nicht zurückhalten, wenn ich eine litauische Melodie höre. Wenn es regnet, beherrscht mein Leben die litausiche Melancholie. Alle diese Kleinigkeiten sind so tief in mir eingraviert, sie sind meine Luft, ohne sie bin ich nicht mehr ich.

Ich halte an. In 105 Minuten habe ich mich überhaupt nicht verändert. Sobald ich es realisiere, beginnt die Ruhe durch mich durchzudringen und überschattet allmählich meine Gedanken.


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