Mehrsprachigkeit als Ausgangspunkt schulischer Bildung in der Primarstufe

 

  1. Ein Schüler der Deutsch als Zweit-/ oder Fremdsprache lernt kann in ca. 6 Monaten ein alltagssprachliches Niveau erlernen. Um eine Zweitsprache auf dem Niveau, der in der Schule notwendigen Bildungssprache zu erwerben vergehen ca. 5-7 Jahre. Ein Kind, dass erst seit zwei Jahren in Deutschland ist, bringt demnach vermutlich noch nicht die ausreichenden sprachlichen Fähigkeiten mit, um von der Lehrkraft eine Beurteilung für eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Die sprachlichen  Fähigkeiten haben aber keinen direkten Bezug zu dem kognitiven Potenzial, dass ein Schüler oder eine Schülerin mitbringt. Sie beeinflussen aber die Beurteilung des Lehrers. Ein Kind, dass sich eine Sprache noch aneignet, sollte aber keineswegs nur aufgrund seiner sprachlichen Fähigkeiten beurteilt werden. Denn man nimmt ihm damit ein Stück der festgelegten Bildungsgerechtigkeit. Für eine Empfehlung an eine weiterführende Schule, sollte  immer das sprachliche Entwicklungspotenzial in Bezug zur Aufenthaltsdauer bzw. zu den Kontaktmonaten  eines Schülers/ einer Schülerin gesehen werden.
  2. Allerdings zeigen sich in einer Schulunterrichts ergänzenden Tätigkeit, in der ich in zwei Sprachförderklassen von je 12-15 Kindern beim Erlernen der deutschen Sprache helfen darf, eher andere Probleme: Die zwei Kurse, die schulbegleitend angeboten werden, reichen zum Teil in die Kernzeiten der Schule hinein. Die SuS, die also dieses zusätzliche Angebot verpflichtend nutzen müssen, nehmen in diesem Zeitraum nicht am Fachunterricht teil. Die Zusammensetzung der Kurse ist notdürftig aus drei verschiedenen Schulen eines Landkreises erfolgt und beschreibt das Phänomen, dass der Begriff Migrationshintergrund  keine konkreten Aussagen über die sprachlichen Fähigkeiten macht sehr gut: Es gibt SuS aus zwei unterschiedlichen Oberschulen und SuS aus dem Gymnasium. Die Kinder sind seit 1- 4,5 Jahren in Deutschland. Manche haben davor die Schule in ihrem Heimatland nur bis zur 1. Klasse besucht.  Die Heterogenität dieser Lerngruppe ist so umfangreich, dass es ein paar Alphabetisierungsschüler/innen gibt und Kinder auf dem Sprachniveau A1, A2 und B1, die insgesamt von „nur“ zwei Lehrkräften betreut werden. Die derzeitige größte Sorge der Schulleiterin des Gymnasiums ist, dass die Kinder des Gymnasiums gar keinen Schulabschluss erreichen, wenn sie die 10. Klasse des Gymnasiums nicht „schaffen“.  Einige Oberschüler wiederholen schon erneut die 9.Klasse. Zusätzlich zu diesem ausgelagerten Sprachkurs erhalten die SuS an allen Schulen noch zusätzlichen Deutschunterricht in verschiedenen Formen ( z.B. Sprachlernklassen ) Allerdings enden diese Maßnahmen im Juli diesen Jahres, da die Stellen der Sprachförderlehrer gestrichen wurden.

Die SuS des Kurses auf höherem (sprachl.) Niveau, sind nicht in der Lage den sprachlichen Anforderungen der 10.Klasse, vor allem im Bereich der Schriftsprache zu genügen. Dies betrifft vor allem die in der Vorlesung benannten bildungssprachlichen Fähigkeiten. Trotz der zusätzlichen Angebote und der großen Bemühungen um Bildungsgerechtigkeit aller Beteiligten, werden es diese SuS laut Aussage der Schulleiterin, nicht schaffen das Gymnasium zu beenden. Der Wille, diesen Kindern trotzdem möglichst lange die Teilhabe am (gymnasialen) Unterricht zu ermöglichen, ist gegeben.  Daher sehe ich Probleme eher in eingeschränkten Förderungsmaßnahmen oder zu geringen Anzahlen von Förderstunden bzw. dem Mangel an ergänzendem Arbeitsmaterial, als ausschließlich in der LehrerInnenbildung.

Grundsätzlich gilt für die SuS der Oberschule, dass dort die in der Vorlesung aufgegriffenen Vorurteile zum Tragen kommen. Die SuS scheinen sich eindeutig als defizitäre Randgruppierung gespiegelt zu sehen und entwickeln eher eine Selbstdefinition in ihrer Nicht-Passung. ( Zitat eines 12-jährigen Schülers mit sehr guten Deutschkenntnissen: „…Die packen einfach alle “Kanaken“ in einen Kurs, ganz egal wie sie Deutsch sprechen.“)

Desweiteren fiel im Orientierungspraktikum eine gewisse Ratlosigkeit der Schule bezüglich der Sprachstandsdiagnostik und der weiteren Sprachfördermaßnahmen auf. Die geringe Anzahl an Förderstunden, die der Schule generell zur Verfügung stehen, reicht nicht aus, um Kinder mit sprachlichen Defiziten möglichst früh effektiv zu unterstützen. Vieles wurde dort durch ehrenamtliche Tätigkeiten aufgefangen. Um wirklich unterstützende Maßnahmen zu ergreifen, müsste sich wohl auf anderer Ebene etwas ändern.

Sprachliche  Lücken rechtzeitig und sinnvoll zu füllen, könnte/ müsste vermehrt Aufgabe der Lehrkräfte sein, um einer frühzeitigen Resignation und Demotivation vorzubeugen. In dieser Zielsetzung sollte „Der Lehrer sich als Erzieher zur Mehrsprachigkeit begreifen. Er sollte die von den Kindern mitgebrachten Sprachen, Dialekte, Regiolekte, Soziolekte in ihrem Eigenwert erkennen und anerkennen, er sollte seine Schüler von da aus in eine andersgeartete Bildungssprache einführen, sollte ihnen das Bewusstsein ihrer wachsenden Mehrsprachigkeit geben, des ganzen Reichtums unserer sprachlichen Möglichkeiten.“ (Wandruszka1979: 18)

Vielleicht wäre DaZ-Begleitmaterial zu den Standard-Lehrwerken (z.B. im Fach Deutsch Klasse 1), die in der Grundschule eingesetzt werden sinnvoll. Damit könnte gleich zu Beginn der Grundschulzeit verhindert werden, dass SuS aufgrund von sprachlichen Defiziten viel Zeit damit verbringen am Unterricht teilzunehmen, ohne ein genaues Verständnis von dem, was um sie herum geschieht. Ein längerer Zeitraum in dem z.B. ein Erstklässler das Gefühl entwickelt, ich erreiche nicht die Kompetenzen, die mein Tischnachbar hat, ohne die eigenen sprachlichen Defizite reflektieren zu können, fördert nur ein negatives Selbstkonzept und trägt zu Stigmatisierung bei (vgl. Busch, Brigitta 2017, S. 52)

  1. Grundsätzlich gilt für alle an Bildung beteiligte, dass sie sich interkulturelle Kompetenzen aneignen sollten. Dies beinhaltet z.B. „migrationsgesellschaftliche Reflexionsfähigkeit bei Lehrkräften. Dabei könnte es einem selbst helfen „von einem erweiterten Kulturbegriff auszugehen, der Kultur theoretisch als Konstrukt und pragmatisch als gemeinsam geteiltes „System von symbolischen Bedeutungen“ versteht“. ( Roth, Hans-Joachim 2002, S91)

Ich würde mir für die eigene Unterrichtsgestaltung mehr  Wissen über sprachdidaktische Ansätze auf Kognitiv‐linguistischer Ebene  und ein Wissen zur Differenzierung fachlicher und sprachlicher Lernziele wünschen ( vgl. Tajmel (2017, S. 265 ff.). Der eigene Unterricht sollte den Aufbau bildungssprachlicher Kompetenzen aller SuS umfassen (über z.B. Wortspeicher, bildungssprachliche Planungsrahmen für den Fachunterricht)

 

  1. „Schule in der mehrsprachigen Gesellschaft setzt interkulturelle Kompetenz als professionelle Haltungs- und Handlungskompetenz voraus“ (Karakasoglu, Yasemin 2018). In der Schule muss demnach die Mehrsprachigkeit von SuS als eine positive Befähigung größere Anerkennung finden. SuS sollten die Möglichkeit haben ein positives Selbstbild entwickeln zu können, fernab von Negativbebilderung.

 

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