Sexistische Daten

Wie Daten sexistische Strukturen und Einstellungen (re-)produzieren.

Als dritte Frau überhaupt hat Claudia Goldin 2023 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Ökonomie gewonnen. Ausgezeichnet wurde sie für ihre herausragende Arbeit zum Gender Gap auf dem Arbeitsmarkt (Tagesschau 2023). Sie zeigt, auf Basis einer historischen Herleitung, warum Frauen* heute immer noch schlechtere Arbeitsbedingungen ertragen müssen. Sie spricht damit die Ungleichheiten und Diskriminierungen an, die FLINTA* seit je her ausgesetzt sind und welche das Leben der Hälfte der Weltbevölkerung nachhaltig beeinträchtigt. Claudia Goldin ordnet sich damit in einen brandaktuellen Diskurs ein, denn obwohl es als FLINTA* wohl keine bessere Zeit gibt am Leben zu sein, sehen uns wir mit massiven antifeministischen Bewegungen überall auf der Welt konfrontiert. Der Wahlerfolg ultrakonservativer Politiker*innen und das Aufkommen antifeministische Bewegungen sind dabei keine Einzelfälle, sondern können als Manifestation eines Trends verstanden werden, welcher die Rechte von FLINTA* und Minderheiten überall auf der Welt dezimiert (Sanders/Dudley Jenkins 2022).

All das findet vor dem Hintergrund einer umfangreichen Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse statt, wie der Digitalisierung, Globalisierung und dem Klimawandel, welches unser Verständnis von Normalität grundsätzlich infrage stellt. Gerade in diesem Klima der Veränderung schafft es das Patriarchat, die Situation für sich zu instrumentalisieren und sie als Katalysator für sexistische Strukturen zu nutzen.

In diesem Projekt haben wir unseren Fokus auf einen bestimmten Aspekt dieser Entwicklungen gelegt: das Zusammenwirken von Digitalisierung und Sexismus.

Daten mögen keine Erfindung der Digitalisierung sein, doch wird ihnen im digitalen Zeitalter eine ganz neue Bedeutung zugesprochen. Daten eröffnen ganz neue Möglichkeiten für eine Reihe von Anwendungsgebieten, insbesondere für Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Als ‚Öl‘ unserer Zeit, dienen Daten allerdings auch immer öfter und umfangreicher als Herrschaftsinstrument. Doch wer profitiert davon und wer steht dabei am unteren Ende der Nahrungskette?

Dieses Projekt diskutiert die komplexen Zusammenhänge zwischen Daten, Geschlechterungleichheit und gesellschaftlichen Strukturen. Wir untersuchen, wie Daten genutzt werden können, um Geschlechterungleichheit aufzuzeigen oder zu bekämpfen, aber auch, wie sie dazu beitragen können, bestehende sexistische Strukturen zu reproduzieren. Dabei werfen wir einen Blick auf verschiedene Aspekte wie den Gender Data Gap, die Rolle von Daten in der Reproduktion patriarchaler Strukturen und die Auswirkungen religiös-fundamentalistischer Ideen auf die Legitimität von Daten als Abbildung wahrer Gegebenheiten. Unsere Diskussionen beleuchten die vielschichtigen Dynamiken, die diese Themen prägen, und bieten Einblicke in die Herausforderungen und Chancen, die sich aus der Verwendung von Daten für geschlechtergerechte Gesellschaften ergeben. Dafür haben wir anhand des World Values Survey (WVS) (Haerpfer et al. 2022) einen Sexismus-Index für die Jahre 2017-2020 konstruiert, welcher uns das Ausmaß misogyner Haltungen in 33 Ländern angibt. In einem zweiten Schritt haben wir einen genaueren Blick auf die Länder USA, Deutschland und Pakistan gelegt und uns mit der aktuellen Situation vor Ort auseinandergesetzt, sowie damit, wie Daten die Situation beeinflusst und reproduziert.

Das Projekt

Im Folgenden möchten wir unser Projekt vorstellen. Zuerst erklären wir, was Sexismus ist und wie er sich durch Daten sichtbar machen lässt bzw. wie Daten auch dazu genutzt werden können, um sexistische Strukturen und Einstellungen zu reproduzieren.    

In einem zweiten Schritt stellen wir unseren Sexismus-Index und unsere Fallbeispiele vor, anhand dessen wir die Verknüpfung zwischen Sexismus und Daten(-praktiken) veranschaulichen wollen.

Was ist Sexismus?

Sexismus meint „die Benachteiligung, Abwertung, Verletzung und Unterdrückung einer Person oder einer Gruppe aufgrund des Geschlechts“ (Meyer et al. 2022). Damit geht die Annahme einher, ein Geschlecht wäre dem anderen natürlicherweise überlegen. Folglicherweise hat Sexismus eine Richtung, welche im Patriarchat immer vom cis-männlichen Geschlecht abwärts fungiert. Diese Form der Diskriminierung manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft und kann vielfältige Ausdrucksformen annehmen.

Die systematische Unterdrückung allen nicht-männlichen hat eine Jahrtausend alte Tradition (Lerner 1991) und ist somit tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Das äußert sich nicht nur im interpersonellen Umgang, sondern auch auf struktureller Ebene und sogar bei Personen, die selbst von Sexismus betroffen sind, lassen sich internalisierte misogyne Verhaltens- und Denkweisen beobachten. Sexismus dient somit als Machtinstrument, um bestehende Hierarchien aufrechtzuerhalten.

Was haben Daten mit Sexismus zu tun?

Wir nutzten Daten, um uns und unsere Umwelt zu beschreiben und zu analysieren. Die Digitalisierung und damit massive Quantifizierung dieser Daten hat dabei völlig neue Möglichkeiten geschaffen (Hippmann 2018: 9), was wir mit diesen einzelnen „units […] of information“ (Gitelman/Jackson 2013: 1) alles machen können, sobald wir sie aggregieren. Gleichzeitig werden Daten bzw. die Informationen, die sie uns liefern, immer wichtiger für unseren Alltag, sowie für Politik und Wirtschaft. Sie werden oft als Legitimationsgrundlage für soziale, politische und wirtschaftliche Entscheidungen genutzt (ebd.) und werden somit als legitim und vertrauenswürdig wahrgenommen. Damit geht zum einen die Annahme einher, dass Daten die realen Gegebenheiten adäquat abbilden, zum anderen, dass sie helfen können, soziale Prozesse effizienter und rationaler zu gestalten (Hepp et al. 2022: 2). Zunächst scheint es auch kein schlechter Ansatz zu sein, doch wird dabei gerne missachtet, dass Daten nicht aus dem Nichts kommen und demnach auch nicht für sich sprechen können. Sie erlauben uns zwar, Information von einem Kontext zu einem anderen transportieren, werden dabei aber maßgeblich durch unsere Entscheidungen geprägt (Kaufmanm et al. 2020: 235f.). Angefangen bei den Vorstellungen, welche wir über den vermeintlichen Nutzen von Daten haben, über die gezielte Generierung passender Daten zur Nutzung völlig aus dem Kontext gerissener, transformierter und reduzierter Information für politische Entscheidungsprozesse (ebd.: 231f.). Daten sind somit nie objektiv, sondern immer aus einem Kontext, einer Intention und einer Situation heraus generiert  (Gitelman/Jackson 2013: 5 f.).

Folglich sind Daten und Statistiken immer kritisch zu betrachten, da sie ein großes Machtpotential in sich bergen. Indem sie gerne als Legitimationsgrundlage gebraucht werden, uns so Einfluss auf den öffentlichen Diskurs nehmen, gleichzeitig aber auch ein sehr verzerrtes Bild vermitteln können, sind Daten auch immer als Machtinstrument zu verstehen.

Aber was hat das nun alles mit Sexismus zu tun? In einer von Männern regierten Welt, ist Sexismus und Misogynie hegemonial. Folgen wir dem zuvor gemachten Argument, werden sich auch sexistische Strukturen und Einstellungen in den Daten bzw. dem Umgang mit ihnen widerspiegeln. Das heißt zum einen, dass die Daten nicht nur vor einem patriarchalen Hintergrund produziert werden, sondern auch in einer patriarchalen Lesart kommuniziert werden. Daten können so zum langen Arm des Patriarchats werden. Gleichzeitig können Date aber auch dafür genutzt werden, um gerade diese sexistischen Strukturen und Einstellungen sichtbar zu machen und schafft somit die Möglichkeit diese erst zu thematisieren. Im folgenden Beitrag möchten wir uns beiden Seiten der Medaille beleuchten. Dafür werden wir zunächst, vorhandene Daten durch eigene Analyse aufzuarbeiten und somit versuchen, Sexismus sichtbar zu machen. In einem zweiten Schritt möchten wir anhand von drei Fallbeispielen Überlegungen anstellen, wie Daten produziert und genutzt werden, um den patriarchalen Status quo zu reproduzieren. Das Ziel dieses Projekts ist es, ein besseres Verständnis über die Verknüpfung von Daten und sexistischen Einstellungen und Strukturen zu bekommen.

Buchempfehlungen

Bad Data: How Governments, Politicians and the Rest of Us Get Misled by Numbers

von Georgina Struge

Ein spannendes Buch darüber, wie Statistiken Politik und Öffentlich-keit täuschen können. Statistische Verfahren und Vokabular wird einfach erklärt und so ein leichter Einstieg in das Thema ermöglicht.

Invisible Women: Exposing Data Bias in a World Designed for Men

von Caroline Craido Perez

Das Buch behandelt den Gender Data Gap. Mit vielen Beispielen aus allen möglichen Bereichen schafft es die Autorin ein umfangendes Bild darüber zu vermitteln, auf wie unterschiedliche Art und Weise Frauen* in Daten und durch Daten vernachlässigt werden.

Der Sexismus-Index

Wie wir bereits erläutert haben, werden in einem Patriarchat Daten vor einem patriarchalen Kontext generiert. Doch das bedeutet nicht, dass sich aus diesen Daten keine Informationen für unsere Zwecke schließen lassen, noch dass diese Daten ausschließlich für patriarchale Zwecke genutzt werden müssen. Wir möchten versuchen, anhand bereits existierender Daten Antifeminismus sichtbar zu machen.

Das Problem bei Sexismus ist, dass er sich nicht direkt beobachten oder zählen lässt. Stattdessen brauchen wir Proxys, welche als Indikatoren für die Disposition „Sexismus“ betrachtet werden können. Ein Index stellt dabei eine sehr simple Form dar, latente Dispositionen sichtbar zu machen. Indem wir aus einer Auswahl an Variablen einen Summenindex bilden, lässt sich die Disposition hinter den ausgewählten Variablen veranschaulichen.

Gender Inequality Index

Der Gender Inequaliy Index (GII) ist ein weiteres Beispiel, wie Sexismus sichtbar gemacht werden kann. Er misst die Ungleichheit zwischen Männern* und Frauen* beachtet dabei drei Dimensionen: reproduktive Gesundheit, Ermächtigung (Empowerment) und die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Der GII geht von 0 bis 1, wobei ein niedriger Wert besonders wenig Gleichheit bedeutet.

Der Sexismus-Index wurde aus einer Reihe Variablen aus der 7. Welle des World Value Surveys konstruiert. Genaueres zum Datensatz, Variablenauswahl und Konstruktion ist im Methoden-Teil zu finden. Die Ausprägungen gehen von 0 bis 1 und soll das Maß an sexistischen Einstellungen im Land ausdrücken. Im Schaubild sind die Werte durch unterschiedliche Farbabstufungen verbildlicht. Das Land mit dem geringsten Index hat den Wert 0 und das Land mit dem höchsten den Wert 1. Die Werte geben keine (!) Auskunft darüber, wie hoch das Maß an Sexismus im Land ist, sondern ist rein relational im Vergleich zum Durchschnitt anderer Länder zu interpretieren. Das bedeutet nicht, dass Länder mit niedrigem Wert besonders progressiv sind, nur, dass sie im Vergleich zum Rest progressiver sind.  Das Land mit der niedrigsten Ausprägung ist die Niederlande, das mit der höchsten Ausprägung ist Pakistan. Alle Werte zu allen Ländern sind im Methoden-Teil zu finden. Zu beobachten ist, dass insbesondere die westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern einen besonders niedrigen und die afrikanischen und süd- und ostasiatischen Länder einen besonders hohen Indexwert haben.

Die Darstellung veranschaulicht sie gut, dass es ein Gefälle zwischen dem „Westen und den Rest“ (Hall 2021: 137) gibt. Doch woran kann das liegen?  Zum einen könnte es daran liegen, dass in vielen islamisch geprägten Ländern ein sehr konservativer, religiös-fundamentalistisches Weltbild vertreten wird, welches mit sehr klaren Geschlechterrollen einhergeht (Riexinger 2007, Hélie 1993). Ähnlich schlecht sieht es aus in Russland, Südost Asien sowie Südamerika, in denen auch viele erzkonservative und rechtsextreme Politiker*innen an der Macht sind und die Rechte von FLINTA* und LGBTQ* teilweise eingeschränkt sind (Buyantueva 2023, Boueke 2020, Wurzel 2018, Sauer 2019). Folglich ist dort ein hohes Maß an sexistischen Einstellungen zu vermuten. Doch das macht „den Westen“ keineswegs besser. Auch in Europa können wir einen deutlichen Rechtsruck und einen zunehmend misogynen Ton vernehmen (Deutschlandfunk 2024, Sauer 2019) und auch in den USA steuert der rechts-konservative „Pussy-Grabber“ Donald Trump in seine zweite Amtszeit (Kolb/Müller-Handen 2024). In unseren Fallbeispielen werden wir nun genauer auf die Situation der FLINTA*s in Deutschland, den USA und Pakistan beleuchten.

Die Fallbeispiele

Im vorherigen Abschnitt haben wir deutlich gemacht, wie wir mit vorhanden Daten latente sexistische Konstrukte veranschaulichen können. In einem nächsten Schritt werden wir uns drei Länder genauer anschauen, die Situation der FLINTA* vor Ort beleuchten und überlegen, welche Rolle Daten in der Reproduktion der sexistischen Umstände vor Ort spielen.

Deutschland

Deutschland liegt im Zentrum von Europa und belegt im Gender Equality Index von 2023 den neunten Platz von 191 Ländern. In unserem Sexismus-Index hat es den Wert 0,11.

Hier geht es zum ganzen Bericht: Deutschland

USA

Die USA liegt in Nordamerika und belegt im Gender Equality Index von 2023 den 21. Platz von 191 Ländern. In unserem Sexismus-Index hat sie den Wert 0,24.

Hier geht es zum ganzen Bericht: USA

Pakistan

Pakistan liegt im Süden Asiens und belegt im Gender Equality Index von 2023 den 161. Platz von 191 Ländern. In unserem Sexismus-Index hat es den Wert 1.

Hier geht es zum ganzen Bericht: Pakistan

Gender Data Gap

Der Gender Data Gap bezieht sich auf die systematische Unterrepräsentation und mangelnde Erfassung von geschlechtsspezifischen Informationen in Datensätzen und Analysen (Buvinic/Levine: 34). Dieses Lückenphänomen beeinflusst verschiedene Lebensbereiche, von Gesundheitswesen über Bildung bis hin zur Wirtschaft. Historisch gesehen wurden viele Datenerhebungen und Forschungsansätze als neutral betrachtet, obwohl sie tatsächlich männliche Erfahrungen und Perspektiven bevorzugten (Lerner 1991: 20). FLINTA* wurden oft vernachlässigt, was zu Verzerrungen in der Analyse und politischen Entscheidungsfindung führte.