Von einem Bildungsideal, das uns verwehrt bleibt

LehrerInnenarbeit steht unter der Prämisse der Gerechtigkeit. Es kann davon ausgegangen werden, dass Gerechtigkeit besteht, wo Gleichheit herrscht, wo jeder und jede gleich behandelt wird. Daher setzt die Institution Schule einen Rahmen, der gleiche Bedingungen für alle SchülerInnen vorsieht. So wird etwa die Zeit, die SchülerInnen für Bildung vorgesehen ist, gleichgeschaltet durch die strenge Festlegung eines Schuleintrittsalters und der Kategorisierung der SchülerInnen in Klassenstufen, aber auch unmittelbar im Unterricht durch die Formulierung von Lerninhalten in der Stundenplanung. Tatsächlich setzt Gleichbehandlung allerdings Gleichheit voraus. Die Realität aber ist vielseitig und nicht als homogene Masse zu fassen. Es gibt immer SchülerInnen, die über oder unter dem Durchschnitt liegen, die eine gleiche Behandlung unter- oder überfordert.

Ich bin der Meinung, hier ist eine andere Definition von Gerechtigkeit notwendig, denn es kann nicht gerecht sein, wenn infolge einer Gleichbehandlung diejenigen unbeachtet oder nicht ausreichend unterstützt bleiben, die von der (willkürlich gesetzten) Norm abweichen. Ich gehe noch weiter und behaupte, dass es nicht gerecht sein kann, Individuen auf generell gleiche Weise zu behandeln, da dies darauf abzielt, die prägnanten Unterschiede zu nivellieren und die Individuen derart ihrer Einzigartigkeit zu berauben. Vielmehr verstehe ich Gerechtigkeit als die Akzeptanz der Individualität jedes Schülers und jeder Schülerin und damit verbunden die Aufforderung, jeden Schüler und jede Schülerin differenziert je nach Lernbiographie und Bildungsvoraussetzungen kennenzulernen und zu behandeln.

Im Klassenraum ist ein derartig differenzierter Umgang mit den SchülerInnen oft schwer zu gestalten, da die Lehrperson an institutionalisierte Rahmenbedingungen gebunden ist, die eine Gleichbehandlung aller SchülerInnen vorsehen. Außerdem wirkt die unterscheidende Beschäftigung mit SchülerInnen der ersten Definition von Gerechtigkeit im Sinne einer Gleichbehandlung entgegen. Eine generelle Gleichbehandlung und eine partikularisierende Differenzierung stehen also im ständigen Spannungsfeld zueinander. Beide Handlungsmotive sind für pädagogische Professionalität unabdingbar, auch wenn sie einander widersprechen. Dieser Widerspruch ist nicht auflösbar, sollte aber stets als lösbar erachtet werden und zur ständig wiederholten Reflexion des eigenen Handelns anspornen.

Über die Hemmungen dieser Widersprüchlichkeit hinaus wird der gerechte Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft dadurch erschwert, dass der Großteil der LehrerInnen die pädagogische Leitlinie der Differenzierung nur auf dem Papier kennt. Wer in seiner Schulzeit selbst erfahren hat, dass als störend empfunden wurde, wer nicht in das Ideal der homogenen Masse passte; wer in seiner Schulzeit selbst nur Frontalunterricht erlebt hat; wer sich in seiner Schulzeit selbst, seine Leistungen und Talente an der Beurteilungskraft von Schulnoten gemessen hat, der steht einem differenzierenden Umgang mit SchülerInnen nicht nur skeptisch gegenüber, er/sie hat darüber hinaus schlichtweg kaum alltagstaugliche Vorstellungen dieses oft noch abstrakten Begriffes. Gerade hier MUSS die universitäre LehrerInnenbildung nachholen, was in den meisten Schulbiographien versäumt worden ist, um individualisierten Unterricht nicht als leere Worthülse verwelken zu lassen. Stattdessen muss ein individualisiertes Studium selbst die Möglichkeiten schaffen, die wir künftigen LehrerInnen den SchülerInnen ermöglichen sollten. Lernwerkstätten, die jedes Eigentempo zulassen; fruchtbarer Austausch auf Augenhöhe; Exkursionen an Modellschulen; Theaterworkshops; kreative Prüfungsleistungen – die Palette ist enorm groß und vielseitig. Massenvorlesungen aber, in denen ein Dozent fünfhundert Studierenden gegenübersteht und Frontalunterricht verteufelt, können nicht anders als Hohn wirken.

Weiter noch: Gebt uns bitte, bitte unsere Studienfreiheit zurück! Das eng bemessene Bachelorstudium macht CP-Hörige aus uns allen. Wir Studierenden verlieren Namen und Gesichter, Interessen und Potenziale, wenn man versucht, uns in Noten zu pressen, uns gleich zu machen. Vergleichbar zu machen. Wir stumpfen ab, wenn uns die auf das Lehramtsstudium zugeschnittenen Module der Fachwissenschaften zu vorgegebenen Veranstaltungen zwingen und weder Raum noch Zeit für individuelle, tiefschürfende Erarbeitung unserer Fragen und Interessen lassen. Wir werden keine guten LehrerInnen, wenn wir selbst nur Definitionen auswendig lernen, um nichts über unser tatsächliches Können aussagende Prüfungen zu bestehen. Wir brauchen ein anderes, ein individualisiertes Studium. Damit die Ideen von Heute in LehrerInnen von Morgen wachsen können.

Published in: on 26. Juni 2014 at 17:17 Comments (2)
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