Er liest. Sie liest. Wir lesen.

Studien zur Lesekompetenz von SchülerInnen behaupten, das Geschlecht sei für die Fähigkeit des Lesen entscheidender als etwa der kulturelle Hintergrund und somit die Muttersprache.

Dass Jungen seltener und unmotivierter lesen als ihre weiblichen Klassenkameradinnen, kann zum einen in der Themensetzung von Kinder- und Jugendliteratur begründet sein, die häufig gerade Mädchen anspricht. Zum anderen trägt sicherlich auch das von der Gesellschaft konstruierte Bild harter Männlichkeit dazu bei, dass sich Jungen nicht derartig „weicher“ Materie wie dem Lesen von Büchern widmen wollen.

An dieser Stelle Aufgaben zu untersuchen, die sich in ihrer Themensetzung besonders auf Jungen oder besonders auf Mädchen konzentrieren, finde ich nicht sinnvoll. Denn ein derartiges Vorgehen würde voraussetzen, eben jene Stereotype der Männlichkeit oder Weiblichkeit anzuwenden und ironischerweise zu reproduzieren. Eine Aufgabenstellung, in der sich – etwa im Fremdsprachenunterricht – zwei Mädchen im Einkaufscenter über Kleidungsstücke unterhalten, kann man kritisieren, sie richte sich explizit an Mädchen und verhindere, dass sich Jungen angesprochen fühlen. Das halte ich für übervorsichtig und kontraproduktiv, weil der Kritik eben jenes gesellschaftlich konstruiertes Bild des shoppingbegeisterten Mädchens zugrunde liegt.

Viel wichtiger finde ich es, der Frage nachzugehen, wie sich Lesen als geschlechtsneutrale Freizeitaktivität behaupten kann. Wie kann ein Junge gern zum Buch greifen, ohne von seinen Freunden, ja manchmal gar von seinen familiären Bezugspersonen ausgelacht zu werden? Wie darf sich ein Mann für Romane, für Theater, für Kunst begeistern, ohne von seinen Mitmenschen den Stempel der Weiblichkeit aufgedrückt zu bekommen? Hierfür ist zweifellos ein Umdenken in der Gesellschaft notwendig, welches den sogenannten „weichen“ Tätigkeiten der Geisteswissenschaften und des sozialen Sektors mehr Würdigung entgegenbringt. Im Klassenzimmer kann man damit anfangen. So kann beispielsweise in jüngeren Klassen ein Buch auf die Art gemeinsam gelesen werden, dass jedes Kind das Buch einmal mit nachhause nehmen darf, ein Kapitel liest und den anderen am nächsten Tag davon berichtet und die Lieblingsstelle für alle vorliest. Derart können die SchülerInnen dieses Buch zum gemeinsamen Gespräch auf dem Schulhof machen, aus dem niemand ausgeschlossen wird, da alle das Buch kennen. In älteren Klassen kann ich mir vorstellen, nach demselben Prinzip eines gemeinsam zu lesenden Buches stellenweise andere Medien einzubeziehen. So existieren zu einer Vielzahl von Werken des Literaturkanons Hörbücher oder Hörspiele, die womöglich eher computerversierte SchülerInnen ansprechen könnten.

Published in: on 20. Juni 2014 at 0:51 Comments (1)
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