Forschendes Lehren und Lernen mithilfe von Systemaufstellungen und systemischen Visualisierungen im Bachelorstudiengang Betriebswirtschaftslehre

von Georg Müller-Christ und Gitta Hußmann

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Systemaufstellungen und systemisches Visualisieren sind zwei Methoden, die klassische Frontalvorlesungen auflockern können und einen gemeinsamen Lern- und Forschungsprozess von Lehrenden und Studierenden ermöglichen. Im Rahmen der Projektförderung der ForstA Säule 2 wurde im Fachgebiet Nachhaltiges Management des Fachbereichs 7 mit diesen Methoden in Lehrveranstaltungen experimentiert. Lesen Sie hier einen kurzen Bericht über unsere Erfahrungen und lernen Sie, wie die Methode angewendet werden kann. Bei weiterem Interesse wenden Sie sich gerne an Prof. Dr. Georg Müller-Christ.

In den ersten Semestern des Bachelorstudiengangs BWL werden den Studierenden Konzepte und Instrumente der Disziplin weitgehend in Frontalvorlesungen vermittelt. Der Lehr-Lern-Prozess ist darauf ausgerichtet, großen Studierendenzahlen mit vertretbarem Aufwand das Grundlagenwissen der Disziplin BWL zu vermitteln. Mit Beginn des vierten Semesters ändern sich die Anforderungen an die Studierenden. Zum einen können sie zwischen verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten wählen, zum anderen werden sie angeleitet, sich kritisch-reflexiv mit dem Selbstverständnis der BWL auseinanderzusetzen und neue Orientierungen zu suchen. Dafür stehen u. a. die Module, die wir anbieten: Nachhaltiges Management und Veranstaltungen im Modul Verhaltensorientierte BWL.

Beide Module zielen auf die Vermittlung von Führungs- und Managementkompetenz ab, die sich an Herausforderungen der Unternehmenspraxis orientieren. Als solche haben wir z. B. Komplexität, Unsicherheit, Unbeständigkeit, Widersprüche und das Aushalten von Trade-offs identifiziert. Für den Umgang mit solchen Themen in der Lehre, so war die Annahme, braucht es Lehr- und Lernmethoden, die das Erfassen komplexer Sachverhalte und Systemdynamiken ermöglichen, das Entwickeln und Reflektieren des eigenen Wertesystems fördern und statt auf einer Belehrungsdidaktik auf einer Erfahrungsdidaktik basieren. Lernen wird im Zuge dessen als offener Such- und Verständigungsraum in Gruppen gestaltet. Im Fokus des Lernens sollten bei uns zwei Aspekte stehen. Zum einen das Lernen über Bilder, denn Bilder transportieren in kurzer Zeit wesentlich mehr Inhalte als Texte oder das gesprochene Wort. Zum anderen werden Beziehungen aufgrund der moderneren Herausforderungen der Unternehmenspraxis zu einem immer wichtigeren Lerninhalt. Zahlreiche Lehrinhalte in den verschiedenen Disziplinen beschäftigen sich mit den Beziehungen zwischen Elementen. Dies können z. B. in den Wirtschaftswissenschaften die Beziehungen zwischen Unternehmen und Stakeholdern sein oder die Beziehungen zwischen abstrakten Entscheidungsprämissen,dies können in den Ingenieurwissenschaften die Beziehungen zwischen verschiedenen Bauteilen eines Aggregats sein, in der Informatik die Beziehungen zwischen Algorithmen, in der Germanistik die Beziehungen zwischen den Argumenten einer Erörterung oder in der Medizin die Beziehungen zwischen Hormonen. Sehr häufig geht es um die Frage, wie ein Element auf ein anderes einwirkt oder mit diesem verbunden ist. Beziehungen zu visualisieren, gemeinsam zu diskutieren und zu verstehen ist das Anliegen einer systemischen Lehr- und Lernperspektive, wie Abbildung 1 veranschaulicht.

Eine Methode, die das Lernen über Bilder und Beziehungen ermöglicht, ist die der Systemaufstellungen. Sie werden in der Praxis im Bereich der Organisationsberatung eingesetzt und erst langsam als didaktisches Instrument in die Lehre eingeführt. Mit Systemaufstellungen wird eine räumlich-szenische Darstellung von Beziehungsstrukturen eines Systems visualisiert, in der Menschen die Elemente des Systems repräsentieren und buchstäblich im Raum aufgestellt werden. Hierbei nutzen die Menschen als Repräsentant/innen bzw. Stellvertreter/innen von Systemelementen die repräsentierende Wahrnehmung, die es ihnen ermöglicht, sich in die Elemente „hineinzufühlen“ und als Stellvertreter/innen spüren zu können, ob der zugewiesene Platz und die Beziehungen zu anderen Elementen akzeptabel, angenehm, störend, bedrückend, stärkend u.v.m. sind. Auf diese Weise wird mit Menschen ein Ursprungssystem an einem anderen Ort neu erzeugt und die Beziehungsstrukturen von Systemen können analysiert werden (Varga von Kibéd 2010, S. 32).

Abbildung 1: Der Kreislauf systemischen Lernens.

Abb. 1: Der Kreislauf systemischen Lernens.

Die Methode bietet die Möglichkeit, theoretische als auch reale Systeme gemeinsam mit Studierenden nachzubilden und zu verstehen. Dabei können Hypothesen für eine weiterführende Forschung generiert oder vorab aufgestellte Hypothesen überprüft werden. Die Methode ermöglicht einen Abgleich zwischen Theorie und Realität. Eine didaktische Einbettung der Methode bietet sich beispielsweise dahin gehend an, dass zunächst Theoriewissen über einen Fachvortrag vermittelt wird, die Studierenden in einem zweiten Schritt die relevanten Systemelemente aufstellen, d. h., diese zueinander in Beziehung stellen und somit die Theorie anhand der Systemaufstellung nachvollziehen. Nach der Aufstellung gilt es, das Gesehene in der Gruppe abzugleichen, zu reflektieren und die Erkenntnisse zu abstrahieren. Aus dieser anschließenden Reflexionsphase heraus können Themen für Hausarbeiten vergeben werden. So können Studierende neue Erkenntnisse aus der Aufstellung zusammenfassen und mit entsprechender Literatur zum Thema abgleichen. Letztlich sollte eine gute didaktische Einbettung der Methode so ausgestaltet sein, dass sich Phasen des kognitiven Lernens und des Erfahrungslernens abwechseln.

Abbildung 2: Grafische Darstellung einer Systemaufstellung.

Abb. 2: Grafische Darstellung einer Systemaufstellung.

Es gibt zwei unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten von Systemaufstellungen in der Lehre: Die komplexere Variante ist die Durchführung einer richtigen Systemaufstellung, bei der die Studierenden aufgestellt, zu ihren Positionen befragt und so in angeleitete Diskussionen miteinander verwickelt werden. Die Studierenden müssen sich dabei darauf  einlassen, ihren Kopf auszuschalten und nur auf ihre körperlichen Wahrnehmungen zu achten, diese zu äußern und in einem weiteren Schritt zu interpretieren. Mit solchen Systemaufstellungen haben wir häufig dann gearbeitet, wenn Praxisvertreter/innen mit bestimmten Problemstellungen zu uns in die Lehrveranstaltungen gekommen sind. Wo früher der Gastvortrag stattfand, analysieren wir heute gemeinsam das System der Praxisvertreter/innen anhand einer Aufstellung. Für die Durchführung solcher Systemaufstellungen ist allerdings eine Ausbildung der Lehrenden erforderlich (vgl. infosyon).

Die abgeschwächte Form einer Systemaufstellung, das systemische Visualisieren, kann mit etwas Übung von jeder Dozentin und jedem Dozenten durchgeführt werden. Systemische Visualisierungen umfassen wie Systemaufstellungen dreidimensionale Raumbilder, um Beziehungen zu vermitteln. Die Elemente eines Systems werden ebenfalls im Raum sichtbar gemacht, indem Menschen als Stellvertreter/innen für die Elemente aufgestellt werden. Ihre Position zueinander und ihre Abstände visualisieren die Beziehungen, die vom Lehrenden vermittelt werden sollen. Auf dieser Ebene hört die Betrachtung allerdings auf, d. h., die aufgestellten Studierenden als Elemente werden nicht zu ihren körperbezogenen Wahrnehmungen befragt. Aber auch ohne diesen Schritt veranschaulicht die Methode Lehrinhalte auf einem anderen Niveau, als es z. B. der Vortrag mit der Power Point-Präsentation ermöglichen würde. In der Nachbereitung können systemische Visualisierungen in Grafiken mit weiteren Informationen aufbereitet werden (siehe Abbildung 2).

Systemische Visualisierungen können als kurze Sequenzen bis zu ca. 10 Minuten in eine Lehrveranstaltung eingebaut werden. Eine systemische Visualisierung sollte immer auf einem gedanklichen Drehbuch basieren, welches die Dozentin oder der Dozent zuvor erstellt. Mit etwas Übung entsteht ein solches Drehbuch auch spontan in einem Vermittlungsprozess, indem gedanklich die nächsten Erläuterungsschritte vorweggenommen werden. Visualisierungen setzen grundsätzlich eine sichere Beherrschung des zu vermittelnden Themas voraus. Folgende Vorgehensweise hat sich für die Durchführung einer systemischen Visualisierung bewährt:

1. Zerlegen Sie Ihren Vermittlungsinhalt in maximal 6-7 relevante Elemente. Es hat sich gezeigt, dass die Studierende bei mehr Elementen den Überblick verlieren, wer für welches Element steht. Wenn Sie eine bestimmte Szene häufiger darstellen müssen, können Sie auch Karten erstellen, auf denen die Bezeichnungen der Elemente stehen und die sie den Stellvertreter/innen um den Hals hängen können.

2. Bauen Sie das Bild langsam auf, indem Sie mit wenigen Stellvertreter/innen beginnen und nach und nach die weiteren Elemente hinzunehmen. So entsteht ein Raumbild, welches der Logik der transverbalen Raumsprache folgt (Orte und Blickrichtung der Elemente in einer systemischen Visualisierung werden von den meisten Menschen gleichartig gedeutet). Zugleich erzählen Sie rund um das Raumbild die relevanten Inhalte. Aufbau und Erläuterungen erzeugen dann eine ähnliche Spannung, wie sie die Zuhörer/innen beim Geschichtenerzählen wahrnehmen. Es herrscht zumeist eine große Konzentration im Raum.

3. Nutzen Sie die Tiefe des Raumes. Auf zweidimensionalen Bildern wie Graphiken und Abbildungen werden die Elemente zumeist nebeneinander von links nach rechts positioniert. Der Zeichnungsraum oberhalb und unterhalb lässt sich nutzen. In systemischen Visualisierungen können sie auch die Dimension oben und unten nutzen (ein Element auf einen Stuhl steigen lassen), wirkungsvoller ist es jedoch, die Tiefe des Raumes zu nutzen. Elemente stehen im Vor- oder Hintergrund, sie können nebeneinander stehen und können in verschiedenen Winkeln einander zugewendet sein. Die möglichen Positionierungen werden zumeist folgendermaßen verstanden:

Abbildung 3

Abb. 3

Wie reagieren Studierende auf den Einsatz von systemischen Visualisierungen und Systemaufstellungen in der Lehre?

Systemaufstellungen können nur in kleineren Veranstaltungen mit bis zu 30 Studierenden durchgeführt werden, während sich systemische Visualisierungen auch für die großen Hörsäle eignen. Der Nutzen der Methoden wird je nach Größe der Veranstaltung unterschiedlich wahrgenommen. Eine Evaluierung der Lehrveranstaltung „Personal und Organisation“ mit 250 Studierenden ergab den durchschnittlichen Wert von 2,7 (auf einer Skala von 1 „trifft voll zu“ bis 6 „trifft nicht zu“) hinsichtlich der Fragen, ob systemische Visualisierungen zu einem besseren Verständnis der Lerninhalte führen und ob in Lehrveranstaltungen öfter mit der Methode gearbeitet werden sollte. In dem Projektmodul „Spannungsfelder in Organisationen systemisch betrachtet“ haben wir die 16 Studierenden detaillierter zu ihren Lernfortschritten durch die Methode der  Systemaufstellungen befragt. Im Durchschnitt gaben die Studierenden z. B. einen Lernfortschritt von 2,5 Stufen hinsichtlich des Items „Fachwissen“ und einen Lernfortschritt von 2,2 Stufen für die Fähigkeit „Spannungsfelder erkennen und besser analysieren zu können“ an. Ihre Reflexionsfähigkeit wurde durch die Methode im Durchschnitt um 1,6 Stufen verbessert (vgl. Hußmann 2015). Die Studierenden bestimmten bei dieser Befragung ihren Lernfortschritt basierend auf unterschiedlichen Ausgangsniveaus, die sie für sich selbst festlegten. Folgende Zitate stammen aus der Befragung der Studierenden zur Methode der Systemaufstellungen:

„Die Systemaufstellungen haben es mir ermöglicht, in sehr viele Systeme (Unternehmen/Branchen etc.) einen Blick zu werfen und meinen Horizont deutlich zu erweitern. Es sind Erfahrungen, die einen nicht nur in der beruflichen Entwicklung fördern, sondern auch in der persönlichen Entwicklung. Toll ist vor allem der Kontakt zu Unternehmen und zu erfahren, welchen Problemen die sich gegenübersehen, da dies teilweise im Studium zu kurz kommt.“

„Auch wenn ich schon immer Spannungsfelder wahrgenommen habe, so entdecke ich heute doch mehr Spannungsfelder als früher. Ich denke, die Systemaufstellung hat mich in diesem Bereich sensibilisiert. Die Methode ist meiner Meinung nach sehr geeignet, um für Spannungsfelder sensibilisiert zu werden. Aufgrund des in Systemaufstellungen vermittelten systemischen Denkens werden viel mehr Kontexte erschlossen, der Blick auf die Welt wird viel breiter. Damit lassen sich viel mehr Beziehungen und Spannungen erkennen als bei dem zuvor beschränkteren Blick.“

„Ich glaube, dass meine Reflexionsfähigkeit sich verbessert hat und insbesondere nicht nur im Zwischenmenschlichen, sondern auch auf abstrakter Ebene besser funktioniert. Vom individuell emotionalen Empfinden ausgehend, erschließt sich im Laufe der Aufstellung das Bild eines vernetzten Gesamtzustandes.“

Während wir in den letzten Jahren selbst gelernt haben, wie Systemaufstellungen und systemische Visualisierungen didaktisch sinnvoll eingebettet werden können, legen wir nun einen Interessensschwerpunkt darauf, wie die Anwendung der Methode von Lehrenden erlernt bzw. geübt werden kann. So haben wir bereits Seminare für Berufsschullehrer und angehende Berufsschullehrer durchgeführt, weitere sollen folgen.

Über die AutorInnen:

Georg Müller-Christ ist seit 2001 Professor für Nachhaltiges Management im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der systemischen Erforschung und Vermittlung einer nachhaltigkeitsorientierten Managementlehre.

Gitta Hußmann hat von Juli 2013 bis Dezember 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am ForstA Projekt „Systemisches Visualisieren von Lehrinhalten durch Aufstellungen“ der Säule 2 mitgewirkt.

Literatur:

Booth Sweeney, Linda. Online: http://www.lindaboothsweeney.net/learning

Hußmann, Gitta (2015): Leading Manager for Sustainability: Nachhaltigkeitsspezifische Kompetenz und ihre systemische Vermittlung, Diss., Aachen: Shaker Im Erscheinen.

Infosyon. Online: www.infosyon.com

Varga von Kibéd, Matthias (2010): Der Körper als Wahrnehmungsorgan in der Systemischen Strukturaufstellungsarbeit. In: Sparrer, I. und Varga von Kibéd, M. (Hrsg.) Klare Sicht im Blindflug. Schriften zur Systemischen Strukturaufstellung, Heidelberg, S. 26-42.

Weiterführende Literatur:

Müller-Christ, Georg/Klein, Peter/Limberg-Strohmaier, Sigrid (2015): Mit Systemaufstellungen unsichtbare Hindernisse erkennen. In: Forum Nachhaltig Wirtschaften, Heft 01, 2015, S. 110-113. Ebenfalls online unter www.forum-csr.net.

Müller-Christ, Georg/Liebscher, Anna Katharina (2015): Advanced Training for Sustainability Change Agents – Insights and Experiences from a Seminar Series Using the Method of Systemic Constellations. In: Leal Filho, W. et al. (Hrsg.), Integrative Approaches to Sustainable Development at University Level. Making the Links. Cham: Springer, S. 451-466.

Müller-Christ, Georg (2013): Wo stehen Nachhaltigkeit und Ressourcenorientierung im Unternehmen? Ordnungsangebote im Prämissengerangel durch Systemaufstellungen. In: Klinke, S./Rohn, H. (Hrsg.): „Ressourcen-Kultur: Vertrauenskulturen und Innovationen für Ressourceneffizienz im Spannungsfeld normativer Orientierung und betrieblicher Praxis. Baden Baden: Nomos, S. 383–392.

Müller-Christ, Georg/Liebscher, Anna Katharina (2015): Transdisciplinary Teaching of CSR by Systemic Constellations. In: Heinemann, S./O`Riordan, L./Zmuda, P. (Hrsg.) (2014): Corporate Social Responsibility: Locating the Missing Link – New Perspectives on Sustainable Management Solutions, Wiesbaden: Springer, Forthcoming.

Müller-Christ, Georg (2013): Konzepte in Beziehung setzen. Systemaufstellungen in der universitären Managementlehre und -forschung. In: Praxis der Systemaufstellung, Heft 1/2013, S. 22-32.

 

 

Bildnachweis:

  • AutorInenfotos: Georg Müller-Christ (privat); Gitta Hußmann (privat)
  • Abb. 1/2/3: Gitta Hußmann

 

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